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Ausgabe 7/99 Themenheft: Kosovo-Krieg   Seite 66ff

Der Rückzug der jugoslawischen Armee, der serbischen Polizeikräfte und Paramilitärs aus dem Kosovo wurde nach Ansicht der deutschen Regierung durch eine "Doppelstrategie" erreicht - einer Intensivierung der Bombardierungen Jugoslawiens bei gleichzeitiger Fortsetzung der Verhandlungen. Gerade letztere konnte wahrscheinlich nur Erfolg haben, weil an ihnen Rußland aktiv beteiligt war. Die russische Regierung konnte somit das Ende der NATO-Luftangriffe auch auf den Erfolg ihrer diplomatischen Bemühungen für eine politische Lösung des Konflikts zurückführen. Die US-amerikanische Regierung hingegen sieht vor allem den massiven militärischen Druck auf Jugoslawien als den entscheidenen Faktor für die Zustimmung Slobodan Milosevics zum Rückzug jugoslawischer Truppen aus dem Kosovo.(1)

Heidrun Müller

Flucht in die Diplomatie - Rußland und der Kosovo-Konflikt

Russische Reaktion auf die Luftangriffe

Als die Mitglieder der NATO am 24. März 1999 damit begannen, Luftangriffe gegen die Bundesrepublik Jugoslawien zu fliegen, erfolgte dies ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates. Dies war eine bewußte Umgehung jener Institution, die als einzige befugt ist, zwischenstaatliche Gewaltanwendung zu autorisieren. Denn eine entsprechende Mandatierung (nach Kapitel VII der UN-Charta) hätte die Allianz auf Grund des zu erwartenen Widerstandes der russischen Regierung wohl nicht erhalten. Die russische Regierung beharrte nämlich auf "einer diplomatischen Lösung für die krisengeschüttelte südserbische Provinz".(2)

Die unmittelbaren Reaktionen Rußlands auf den Beginn der NATO-Luftangriffen, die für die russischen Politiker überraschend erfolgten, waren zunächst harsch. Der Sprecher des Kremls ließ verlauten, daß sich die russische Regierung auf Grund dieser Aggression das Recht vorbehält, "adäquate Mittel" zu ergreifen. Unter adäquaten Mitteln verstand der russische Außenminister Igor Iwanow bspw., das Waffenembargo, das die Vereinten Nationen 1993 gegen Jugoslawien verhängt hatten, auszusetzen.(3) Der russische Präsident Jelzin versicherte aber der NATO, keine militärischen Schritte gegen die Luftangriffe zu unternehmen. Trotzdem kündigte die Regierung zunächst an, Kriegsschiffe aus Sewastopol in die Adria zu verlegen.(4)

Rußland in Europa

Schon mit der Osterweiterung des westlichen Verteidigungsbündnisses um die ehemaligen russischen (sowjetischen) Warschauer Pakt-Genossen Ungarn, Tschechien und Polen am 13.3.99 hatte die NATO aus russischer Sicht "die Grenze des Zumutbaren" überschritten.(5) Das Verhältnis zur NATO und insbesondere die Kritik an der Osterweiterung ist noch immer vom Denken des Kalten Krieges bestimmt. Die NATO stellt als Relikt des Kalten Krieges noch immer eine Bedrohung dar, zumal der Warschauer Pakt als Gegenbündnis nicht mehr existiert. Andererseits streben die Staaten Mittel- und Osteuropas nur die Mitgliedschaft in der Allianz an, weil sie sich noch immer von Rußland bedroht fühlen. Demgegenüber wird den USA vorgeworfen, sie wollten die europäischen Staaten dominieren und Rußland ausgrenzen. Aus russischer Sicht wird das Land zunehmend isoliert - eine Einschätzung, die von den NATO-Mitgliedsstaaten zurückgewiesen wird: vielmehr würde die russische Regierung viele Gesprächsangebote nicht annehmen.(6) Seitens der westlichen Regierungen wurde bisher tatsächlich wenig unternommen, diese Befürchtung zu zerstreuen. So wurde der Präsident Rußlands in Köln beim G-7-Treffen am 10.6.99 in die Rolle des Bittstellers gedrängt, der hoffen mußte, daß seine Gläubiger ihm zumindest einen Teil der Schulden erlassen würden.(7)

Im Fall des Kosovo-Konfliktes fühlte sich die russische Regierung erneut gedemütigt. Denn die NATO hatte noch nie so offen Zuständigkeiten außerhalb ihres Territoriums reklamiert. Russische Politiker sahen ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt, die im Verlaufe der Debatte um die Osterweiterung vorgebracht worden waren.(8) "Die Bombardierung Jugoslawiens weckt [zudem] alte Einkreisungsängste der Russen."(9) Die Luftangriffe stellten den Beginn einer ausgreifenden NATO-Strategie dar, mit der unter der Führung der USA und ohne Rücksicht auf die Vereinten Nationen eine neue interventionistische Rolle für die Allianz nach dem Ende des Kalten Krieges bestimmt werden soll. Diesem neuen Selbstverständnis der NATO wurde mit der Verabschiedung des neuen strategischen Konzeptes auf dem NATO-Gipfel in Washington am 23./24.4.99 Rechnung getragen.(10)

Innenpolitische Folgen

Der Ausschluss der russischen Regierung von internationalen Entscheidungsprozessen, der durch den Beginn des NATO-Krieges gegen Jugoslawien besonders deutlich wurde, verstärkte die anti-westliche Stimmung im Land. Die Entscheidung der russischen Regierung, die Zusammenarbeit mit der NATO einzuschränken, wurde von den nationalistischen und kommunistischen Kräften unterstützt.(11) Zugleich stimmten die Abgeordneten der Duma mit großer Mehrheit (293 zu 54 Stimmen)(12) für einen Beitritt Jugoslawiens zur slawischen Union(13), während der russische Außenminister davon sprach, daß dieser Wunsch erst einer Prüfung unterzogen werden müsse.(14) Auch Mitglieder gemäßigter Fraktionen stimmten für den Antrag.

Von nationalistischen und kommunistischen Politikern, die eine offene Unterstützung für Jugoslawien forderten, wird immer wieder die slawisch-orthodoxe Verbundenheit zwischen dem serbischen und russischen Volk beschworen. Diese führen sie u.a. auf den Anspruch der russischen Zaren Mitte des letzten Jahrhunderts zurück, Schutzherr der slawischen, christlich-orthodoxen Balkanvölker gegen die Herrschaft des türkisch-islamisch geprägten Osmanischen Reiches zu sein. Aus dieser Unterstützung leiteten die Serben schließlich die Berechtigung für ihre Vormacht gegenüber anderen Völkern der Region ab.(15) So wird die Rolle Serbiens in der Region, insbesondere innerhalb des ehemaligen Jugoslawiens, gleichgesetzt mit der hegemonialen Stellung Rußlands innerhalb der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS).(16)

Gescheiterte Vermittlungsversuche

Bereits eine Woche nach Beginn der NATO-Luftangriffe auf Jugoslawien hatte der zu diesem Zeitpunkt noch amtierende Ministerpräsident Jewgeni Primakow mit Slobodan Milosevic Gespräche über eine politische Lösung geführt.(17) Voraussetzung einer diplomatischen Lösung sei jedoch die Beendigung der Bombardements, so Primakow. Die NATO wies dies allerdings zurück, wie auch ein Verhandlungsangebot Milosevics, das nach dem Treffen mit Primakow an die Allianz gerichtet wurde.(18) Einen weiteren Vermittlungsversuch unternahmen russische Duma-Abgeordnete in Zusammenarbeit mit US-amerikanischen Mitgliedern des Repräsentantenhauses. Dieser Vorstoß wurde von der US-Regierung stark kritisiert, u.a. weil eine Vereinbarung, deren Spielraum einengen würde. Die US-Abgeordneten verteidigten ihre Initiative mit dem Hinweis, daß die russischen Politiker zum ersten Mal einer bewaffneten Friedenstruppe, einem völligen Abzug serbischer Truppen und der Benutzung des Begriffes "ethnische Säuberung" zugestimmt hätten.(19)

Nach diesem Versuch ernannte der russische Präsident Boris Jelzin den früheren Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin am 14.4.99 zum Sondervermittler für Jugoslawien.(20) Die Ernennung Tschernomyrdins war sowohl ein Signal nach innen als auch an die Adresse der NATO-Staaten. Zum einen konnte sich der russische Präsident dem wachsenden innenpolitischen Einfluß des Ministerpräsidenten Primakow und seiner Regierung entgegenstemmen, indem er alle Kompetenzen bezüglich des Kosovo auf den Sondervermittler Tschernomyrdin übertrug.(21) Zum anderen übernahm Tschernomyrdin die Rolle des internationalen Mediators.(22) Diese Rolle erlaubte es der russischen Regierung als ehemalige Hegemonialmacht in Mittel- und Osteuropa "jene Sonderrolle zu spielen, in der [sie] sich so gerne sieht."(23) und gleichzeitig zu signalisieren, daß der russische Präsident gute Beziehungen zu den NATO-Staaten erhalten möchte.

Rußland in diplomatischer Offensive

Nach zahlreichen Gesprächen Tschernomyrdins mit Vertretern der USA, der EU und der jugoslawischen Regierung konnte am 3.6.99 die Zustimmung Jugoslawiens zum gemeinsamen Friedensplan der EU und Rußlands erreicht werden. Vor diesem Hintergrund konnte am 9.6. ein militärisch-technisches Abkommen zwischen dem jugoslawischen Generalstab und der NATO unterzeichnet werden, in dem u.a. der völlige Rückzug der serbischen Truppen und Paramilitärs bei Aussetzung der Luftangriffe der NATO vereinbart wurden. Am 10.6.99 konnte schließlich auf der Grundlage des europäisch-russischen Friedensplans eine Sicherheitsrats-Resolution verabschiedet werden. Die Mandatierung einer internationalen Schutztruppe für den Kosovo durch die UNO war die entscheidene Voraussetzung nicht nur zum Einverständnis Milosevics, die jugoslawischen Truppen aus dem Kosovo zurückzuziehen(24), sondern auch um Rußland die "internationale Sicherheitspräsenz", die in der Praxis v.a. aus NATO-Truppen besteht, schmackhaft zu machen.

Ausgeklammert - und bis heute ungeklärt - blieb die Rolle Rußlands in Hinsicht auf die Aufgaben und organisatorische Eingliederung in die Kosovo Force (KFOR). Greifbar wurde dieser schwelende Konflikt, als rund 200 russische Fallschirmjäger des russischen SFOR-Kontingents in einer Nacht-und-Nebel-Aktion am 12.6., wenige Stunden vor Einmarsch der NATO-Kontingente, den Flughafen von Pristina besetzten.(25) Der russische Präsident Jelzin betonte daraufhin, daß er es nicht mehr zulassen werde, daß Rußland, wie zum Beginn des Kosovo-Konfliktes, übergangen wird. Rußland bestand auch zunächst auf einem eigenen russischen Sektor im Kosovo. Darauf wollten sich die Regierungschefs der NATO-Staaten jedoch nicht einlassen, weil sie befürchteten, daß das zu einer faktischen Teilung des Kosovo führen könnte. Ähnlich wie bei der SFOR-Truppe in Bosnien zeichnet sich ab, daß die russischen Truppen nicht der NATO direkt unterstellt werden, sondern formal unter Oberbefehl anderer Staaten stehen, in der Praxis jedoch einen Sonderstatus wahrnehmen.(26) Die UCK wiederum kündigte an, daß "sie die Sicherheit der russischen Truppen nicht garantieren" könne.(27)

Vorläufige Bilanz

Der russische Präsident vermochte durch den Kosovo-Konflikt seine innenpolitischen Gegner zu schwächen. Er entließ Ministerpräsident Primakow und ließ durch die Duma seinen Wunschkandidaten Sergej Stepaschin bestätigen. Primakow, der als potentieller Nachfolger Jelzins im Amt des Präsidenten gehandelt wurde, verlor dadurch an innenpolitischem Gewicht. Zwar übten einzelne Militärs, wie General Iwaschow, Kritik an der Kosovo-Politik der russischen Regierung, aber schließlich wurde für die Militärs das Ansehen der Armee wiederhergestellt, indem russische Truppen als erste in das Kosovo einmarschierten. So bestand der russische Präsident auch nicht mehr auf einen eigenen russischen Sektor im Kosovo.(28)

Der Kosovo-Konflikt machte andererseits die außenpolitische Schwäche Rußland mehr als deutlich. Die ehemalige Supermacht hatte nicht viel in die Waagschale zu werfen, um der NATO-Offensive Paroli zu bieten. Das Drohpotential Moskaus, das v.a. aus seiner atomaren Kapazität zu bestehen scheint, beindruckte die NATO-Bellizisten wenig. Dennoch erkannte die NATO, daß Rußland durchaus als dienlicher Akteur instrumentalisierbar ist, um aus der Sackgasse einer militärischen Eskalation einen ohne großen Gesichtsverlust zu entkommen. Interessant ist auch die Beobahtung, daß "sobald Russen, Amerikaner und Europäer eine Sprache sprechen, [...] der Manövrierraum von Milosevic eng" wurde.(29)

Anmerkungen:  
(1) Vgl.: Tagesspiegel (Tsp.), 5.6.99
 
(2) Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL), 24.3.99, in:
http://www.rferl.org  
(3) RFE/RL, 25.3.99, in:
http://www.rferl.org  
(4) RFE/RL, 1.4.99, in:
http://www.rferl.org  
(5) Vgl.: Alamir, Fouzieh Melanie: NATO-Öffnung und die Probleme danach, in: Europäische Sicherheit 6/99, S. 49
 
(6) Vgl.: BIOst (Hrsg.): Der Osten Europas im Prozeß der Differenzierung, München/Wien 1997, S. 361 ff.
 
(7) Tsp., 21.6.99
 
(8) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 28.6.99
 
(9) Die Zeit, 6.5.99
 
(10) Ebd.; zum neuen strategischen Konzept der NATO vgl.: ami 6/99, S.29-35
 
(11) FAZ, 28.6.99
 
(12) Die Zeit, 6.5.99
 
(13) Diese Union wurde im Mai letzten Jahres in einem Vertrag zwischen WeißRußland und Rußland vereinbart. Geplant war, noch in der ersten Hälfte des Jahres 1999 einen Einigungsvertrag zu vereinbaren. Bürger beider Staaten verfügen über die gleichen Rechte, ebenso jeweils über das aktive und passive Wahlrecht im anderen Staat. Vgl.: Tsp, 27.12.98
 
(14) FAZ, 13.4.99
 
(15) Vgl.: Hoppe, Hans-Joachim: Moskau und die Konflikte im früheren Jugoslawien in: Außenpolitik 3/97, S. 267
 
(16) Vgl.: Alexandrova, Olga: Rußland und die Jugoslawien-Krise, in: Europäische Sicherheit 12/92, S. 662; dieselbe: Rußland und sein Nahes Ausland, in: BIOst (Hrsg.): Zwischen Krise und Konsolidierung, München/Wien 1995, S. 325
 
(17) RFE/RL, 30.3.99, in:
http://www.rferl.org  
(18) Süddeutsche Zeitung (SZ), 3.-5.4.99
 
(19) RFE/RL, 14.5.99, in:
http://www.rferl.org  
(20) Aus seiner Zeit als Ministerpräsident 1992-1995 hat Tschernomyrdin gute Beziehungen zu zahlreichen westlichen Politikern und ist prowestlich eingestellt. Der Schwerpunkt seiner Politik ist der Aufbau guter wirtschaftlicher Beziehungen zum Westen. Er sitzt im Vorstand der Gazprom, die zwei Drittel der Gasvorräte der Erde kontrolliert. Seit dem Bau der Pipeline "Druschba" in den achtziger Jahren kennt er Milosevic. Vgl.: Berliner Zeitung, 8./9.5.99
 
(21) Boston Globe, 21.4.99, in:
http://www.rferl.org  
(22) New York Times, 21.4.99, in:
http://www.rferl.org  
(23) FAZ, 28.6.99
 
(24) Tsp., 9.6.99
 
(25) Frankfurter Rundschau, 14.6.99
 
(26) Tsp., 20.6.99
 
(27) Tsp., 14.6.99
 
(28) FAZ, 28.6.99
 
(29) Die Zeit, 10.6.99
 

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