Die russische Regierung führt inzwischen
den zweiten Krieg in Tschetschenien, der nach Souveränität strebenden
kaukasischen Teilrepublik der Russischen Föderation. Der erste Krieg
dauerte vom 11. Dezember 1994 bis zum 25. August 1996. In dieser Zeit wurden
etwa 50.000 Zivilisten und 5.000 russische Soldaten getötet. Die Zahl
der getöteten tschetschenischen Kämpfer ist unbekannt. Die offiziellen
Begründung für den ersten Krieg war, die Ordnung und die Verfassung
Rußlands auf dem tschetschenischen Territorium wieder herzustellen.
Der jetzige Krieg wird mit der Bedrohung Rußlands und seiner Bürger
durch islamistische Terroristen begründet. Die tatsächlichen
Motive für die Kriege liegen jedoch fern der offiziellen Statements
der Regierung und des Präsidenten, sie sind aber genauso wenig durch
das alleinige Interesse am Erdöl zu erklären, wie es ein Teil
der westlichen Medien derzeit versucht. Über die wirklichen Hintergründe
lassen sich überhaupt keine dezidierten Aussagen treffen. Das Konglomerat
unterschiedlichster Interessen ist zu groß und es ist in der jetzigen
Situation auch nicht möglich, den Einfluß und die Stärke
der verschiedenen Interessengruppen genau auszumachen.
Stefan Müller
Fortsetzung eines
Krieges ohne Ende: Tschetschenien
Vorbemerkungen zur
Politik in Rußland
Will man Aussagen über Rußland
treffen, müssen zunächst einige grundlegende Annahmen ins Auge
gefaßt werden. Wir haben es dort nicht mit einem stabilen politischen
System mit festgefügten Strukturen zu tun. Es existieren keine politischen
Organisationen oder Parteien, die eine bestimmte Schicht, Klasse oder Interessengruppe
repräsentieren, deren politische Anliegen formulieren und in das politische
System einbringen. Eine Ausnahme macht die Kommunistische Partei, die auf
eine Geschichte, einen Apparat und in Teilen auf die Mitgliedschaft der
Sowjetunion zurückgreifen kann. Sämtliche anderen 'Parteien'
sind eher Wahlblöcke, die auf kurzfristigen Bündnissen basieren,
nach dem Erfolg oder dem Scheitern entsprechend schnell wieder zusammenfallen.(1)
Auch der Staat bildet keinen einheitlichen Apparat, noch kann behauptet
werden, daß er über die für einen Staatsapparat typische
Durchsetzungsfähigkeit verfügt. Es gilt eher der Witz, daß
die Erlasse des Präsidenten außerhalb des Moskauer Autobahnrings
eine unverbindliche Diskussionsgrundlage darstellen. Der Präsident
und sein Apparat verfügen gemäß der Verfassung zwar über
erhebliche Macht, er ist in den Regionen Rußlands jedoch nur sehr
begrenzt in der Lage, diese auch durchzusetzen. Die russischen Situation
ist vielmehr gekennzeichnet durch verschiedene politisch-ökonomische
Interessengruppen, die um Macht, Einfluß und staatliche Zuwendungen
ringen.(2) Diese Bündnisse
gruppieren sich um Wirtschaftsstandorte, um Regionen oder auch um bestimmte
politische und personelle Zugänge zu den Machtzentren. Einige Autoren
behaupten sogar, daß der Staatsapparat selbst nur ein Teil dieser
unterschiedlichen Interessensblöcke sei.(3)
Als relativ stabile Einheiten können dagegen die Armee und die Geheimdienste
angenommen werden. Es ist jedoch schwierig, den Einfluß der Armee
auf die politischen Entscheidungen zu analysieren. In der sowjetischen
Geschichte wurde die Armee unter Stalin jeglicher politischer Entscheidungen
enthoben, die Führungsspitze wurde während der Schauprozesse
der dreißiger Jahren sogar umgebracht. Über den Einfluß
der Geheimdienste kann man, in der Natur der Sache liegend, keine Aussagen
machen. Die Rekrutierung Wladimir Putins - vorher Leiter des Inlandsgeheimdienstes
FSB (einer von mehreren Nachfolgediensten des aufgelösten KGB) - zum
Ministerpräsidenten durch Jelzin kurz vor Beginn des zweiten Krieges
kann natürlich als Indiz für einen entsprechenden Einfluß
gelten. Auch der frühere Ministerpräsident Primakow gehörte
zum Geheimdienst und Stepaschin war Polizeigeneral. All dies läßt
auf einen Einfluß des Geheimdienstes auf das Machtzentrum schließen,
alles genauere bewegt sich jedoch im Bereich der Spekulation.
Beginn der Kämpfe
in Dagestan
Der aktuelle Krieg in Tschetschenien begann
nach offiziellen Aussagen mit dem Einmarsch tschetschenischer Rebellen
in die russische Teilrepublik Dagestan am 6. August 1999. Vier Tage später
riefen die tschetschenischen Kommandos dort einen 'unabhängigen islamischen
Staat Dagestan aus'. In den darauf folgenden Wochen konnten die russischen
Truppen gemeinsam mit dagestanischen Freiwilligen die Rebellen wieder zurückdrängen.
Zur selben Zeit (Mitte August bis Anfang September) wurden in Moskau, Wolgadonsk
und der dagestanischen Stadt Bujnask Bombenattentate auf Einkaufszentren
und Wohnhäuser verübt, bei denen 300 Menschen ums Leben kamen.
Für diese Anschläge wurden in der Folge tschetschenische Terroristen
verantwortlich gemacht. Die Urheber reichen nach russischer Lesart von
den tschetschenischen Feldkommandanten Bassajew und Chattab, unterstützt
durch pakistanische Söldner, bis hin zum Superterroristen Osama bin
Laden.(4) Am 3. September
dringen etwa 2000 Rebellen erneut nach Dagestan ein und besetzen dort mehrere
Dörfer. Mitte September fängt die russische Armee an, mehrere
Zehntausend Soldaten an der Grenze zu Tschetschenien zusammenzuziehen,
am 23. September kommt es zu ersten Bombenangriffen auf die Hauptstadt
Grosny und am 1. Oktober dringen russische Bodentruppen nach Tschetschenien
ein. Der Einmarsch der russischen Truppen wird mit der Bekämpfung
des Banditentums und der von Tschetschenien ausgehenden terroristischen
Gefahr begründet.(5)
An dieser offiziellen Version sind allerdings erhebliche Zweifel angebracht.
Die Infiltration tschetschenischer Kämpfer nach Dagestan ist im Grunde
nichts Neues, schon Monate vorher sickerten immer wieder Kämpfer ein
und lieferten sich Gefechte mit regionalen Milizen bzw. russischen Einheiten
an der Grenze der beiden Republiken. Man muß fragen, warum die russische
Regierung und auch die Presse erst ab August darauf reagierten. Schon 1997
hatten sich einige Dörfer in Dagestan zu 'unabhängigen islamischen
Territorien' erklärt und den regionalen Behörden über Monate
hinweg Widerstand geleistet. Die Auseinandersetzungen endeten in einer
Pattsituation, die Dörfer leben seitdem unter dem Recht der Scharia.(6)
Der Angriff von bewaffneten Gruppen ist mit Sicherheit kein freundlicher
Akt und militärische Reaktionen hierauf auch kein Wunder. Es stellt
sich nur die Frage, warum Rebellen in Dagestan einmarschieren, einen Konflikt
und darauf folgend einen Krieg riskieren, der zur weitestgehenden Zerstörung
ihrer Heimat, ihrer militärischen Basen und möglicherweise der
ganzen Guerilla führt. Der ehemalige Ministerpräsident Stepaschin
(der Vorgänger von Putin) liefert zur Zeit eine mögliche Erklärung
hierfür. Demnach habe der Kreml einen Angriff auf Tschetschenien schon
im Frühjahr oder Sommer geplant. Die tschetschenischen Kämpfer
hätten folglich nur die Front nach vorne verlegt und somit versucht,
den russischen Angriff auf den Winter zu verschieben. Stepaschin ist nach
eigenen Äußerungen vom Ministerpräsidentenamt entlassen
worden, da er sich geweigert hat, Krieg zu führen.(7)
Kampf gegen Terroristen?
Die Bombenattentate auf russische Wohnhäuser
haben zu einer massiven Popularität des Krieges unter der russischen
Bevölkerung geführt. Gab es im ersten Tschetschenienkrieg in
der Bevölkerung noch erheblichen Widerstand, es sei hier nur an die
Soldatenmütter erinnert, wurden zu Beginn dieses Krieges kaum Stimmen
laut. Alle Parteien des Parlaments haben sich für den Krieg ausgesprochen,
auch diejenigen, die im ersten noch opponierten. Es gibt für eine
tschetschenische Urheberschaft der Attentate noch keine Beweise, obwohl
die Regierung diese schon lange versprochen hat. Einige Indizien sprechen
sogar eher dagegen:
-
Tschetschenische Kämpfer haben ihre Beteiligung
offiziell bestritten, ganz im Gegensatz zu den Erfahrungen des ersten Krieges,
wo sie sich zu ihren Anschlägen bekannten. Für die Bombenanschläge
hat überhaupt keine Gruppierung die Verantwortung übernommen,
sie kamen aus dem Nichts und sind auch dort wieder verschwunden. Ein Motiv
ist nicht sichtbar und auch ein tschetschenisches ist nicht auszumachen.
-
Die Bombenanschläge haben pünktlich
mit Kriegsbeginn wieder aufgehört. Es stellt sich schon die Frage,
warum man in der größten Gefahr die stärkste Waffe aus
der Hand legen sollte. Die lokalen Behörden in Rußland haben
zwar eine Reihe von Sicherheitsmaßnahmen durchgeführt, damit
aber auch Rassismus gegen die 'tschernye' ("die Schwarzen" - abfällige
Bezeichnung für Kaukasier) geschürt, Massenkontrollen wurden
in den Städten vorgenommen und die Auflagen für ansässige
Kaukasier erschwert. Dennoch sollte man nicht glauben, daß ein Land
dieser Größe sich vor Bombenanschlägen schützen könnte,
zumal wesentlich mehr Tschetschenen auf russischem Gebiet als in Tschetschenien
leben.
-
Die Beweismittel sind nur wenige Tage nach
den Anschlägen vernichtet worden, d.h. die Häuser wurden gesprengt
und der Schutt abgeräumt.
-
Der russische Inlandsgeheimdienst FSB hat
Bombenattrappen in russische Wohnhäuser gelegt, angeblich um die Wachsamkeit
der Bevölkerung und der lokalen Behörden zu überprüfen.
In Rjasan ist eine solche Attrappe von den Hausbewohnern entdeckt worden.
Diese alarmierten die Miliz und das Haus wurde evakuiert. In den anschließenden
Vernehmungen sagte die Bewohner aus, ihnen wären kaukasisch aussehende
Männer verdächtig vorgekommen, die große Säcke ins
Haus getragen hatten. Dieser Umstand ist vom Geheimdienst bestritten worden,
es wurden angeblich nur 'slawisch' aussehende Männer eingesetzt. Die
Vernichtung der Beweismittel und die verdeckten Aktionen des FSB lassen
sogar auf eine mögliche Geheimdienstaktion schließen, beweisen
kann man das natürlich nicht. Auf alle Fälle haben die Bomben
wie eine Provokation gewirkt, eine Begründung für den Einmarsch
war geliefert.(8)
Motive des militärischen
Eingreifens
Welches sind die Motive für die russischen
Feldzüge in Tschetschenien? Diese sind nicht in der Eindeutigkeit
festzumachen, wie es in der westlichen Welt versucht wird. Man könnte
meinen, daß Rußland nationale Interessen in Tschetschenien
verfolgt und versucht, die staatliche Souveränität aufrecht zu
erhalten. Diesem Erklärungsversuch soll zumindest ein Einwand entgegengehalten
werden. Ein großer Teil der russischen Regionen hat seit dem Zusammenbruch
der Sowjetunion einen enormen Machtzuwachs erhalten. Als ein Beispiel sei
die Republik Tartastan genannt, die auf der Basis bilateraler Verträge
mit der Moskauer Zentralgewalt über quasi nationalstaatliche Souveränität
verfügt. Die Republik Tartastan regelt beispielsweise die Staatsangehörigkeit
selbst, darf eigenständig internationale und außenwirtschaftliche
Beziehungen aufnehmen und hat eine eigene Nationalbank; alles Momente,
die für eine relative Autonomie von der Zentralgewalt sprechen. Die
Außenwirtschaftsbeziehungen fallen sogar in die vollständige
Autonomie Tartastans.(9)
Der Zusammenhalt Rußlands funktioniert weitgehend über bilaterale
Abkommen, welche die Rechte des Parlaments, dem eigentlichen Entscheidungsträger
in einer parlamentarischen Demokratie, umgehen. Auch die Rolle der Zentralgewalt
wird durch die große Autonomie der Regionen erheblich in Frage gestellt.
Sicherlich liegt es im Interesse des Machtzentrums, die nationale Integrität
Rußlands zu erhalten. Es soll jedoch bezweifelt werden, daß
dies der ausschlaggebende Moment für einen militärischen Angriff
war, da der Kreml im Umgang mit den Regionen zugleich eine hohe Flexibilität
aufweist. Sicherlich ist auch richtig, daß das "Tschetschenienproblem"
nach dem ersten Krieg nicht gelöst war. Der erste Krieg endete damit,
daß der letztliche Status Tschetscheniens durch den Friedensvertrag
vom 25. August 1996 nur verschoben wurde. Es wurde eine Absichtserklärung
verfaßt, bis zum Jahr 2001 zu einer politischen Lösung des Konfliktes
zu kommen. Aber auch dies erklärt noch nicht den aktuellen Konflikt.
Generell muß man fragen, ob die Akteure in Rußland überhaupt
in der Lage sind, "nationale Interessen" zu formulieren. Hierzu bedarf
es eines starken Blocks an der Macht mit einer gewissen hegemonialen Reichweite
über die konkurrierenden Gruppen. Solch ein Block, der vermitteln
und ausgleichen kann, der in der Lage ist, für die ökonomischen
und politischen Akteure Interessen zu formulieren, existiert nicht. Der
rasche Wechsel von einem Ministerpräsidenten zum nächsten innerhalb
kürzester Zeit scheint gerade das Gegenteil zu belegen, nämlich
die jeweils nur kurzfristige Hoheit einer Gruppe über die anderen.
Ein weiteres Motiv, das angeboten wird, sind die Erdölvorkommen in
Tschetschenien bzw. die im kaspischen Meer. Von der aserbaidschanischen
Stadt Baku laufen die Pipelines über die dagestanische Hafenstadt
Mahatschkala und durch Tschetschenien zum russischen Hafen Noworossijsk.
Die Erdölvorräte in Tschetschenien sind relativ gering und die
Produktion ist in den Jahren nach 1991 erheblich zurückgegangen. Die
Fördermenge betrug 1993 weniger als 1% der Gesamtfördermenge
der Russischen Föderation.(10)
Was die Kontrolle der Erdölleitungen betrifft, muß man sich
fragen, ob es nicht sinnvoller wäre, diese um Tschetschenien herumzuleiten.
Dies würde sicherlich einige Zeit in Anspruch nehmen, jedoch wäre,
bei einem mehrjährigen Guerillakrieg, damit ein Schutz der Ölleitungen
garantiert. Von strategischem Interesse für die Ölleitungen ist
Dagestan, weniger aber Tschetschenien. Sicherlich von Bedeutung sind geostrategische
Interessen Rußlands im Kaukasus. An der Westgrenze hat Rußland
mit Polen inzwischen direkten Kontakt zu einem NATO-Staat und die drei
baltischen Staaten möchten ebenfalls in die NATO. Trotz des Geredes
von Sicherheitspartnerschaft, wird die NATO auch in Zukunft andere Interessen
verfolgen als Rußland. Der Kaukasus ist die Südflanke Rußlands,
die zunehmend aufgeweicht worden ist. Aserbaidschan und Georgien haben
in den letzten Jahren engere Kontakte mit den USA geschlossen und der NATO-Staat
Türkei versucht in der Region an Einfluß zu gewinnen (vor allem
in den asiatischen Teilen Rußlands). Sicherheitspolitisch hat Rußland
dort vitale Interessen. Dieses Motiv ist jedoch so allgemein, das es die
konkrete Situation wenig erklärt. Einige russische Autoren und Medien
gehen davon aus, daß Korruptionsgewinne für den ersten Krieg
eine wesentliche Ursache waren. Demnach hatten der damalige russische Verteidigungsminister,
der Nationalitätenminister und der Vizepremier mit dem damaligen tschetschenien
Präsidenten Dudajew über Tschetschenien einen regen Waffenhandel
betrieben. Der Krieg war nun der Versuch, einen den Russen genehmeren Zwischenhändler,
der mit weniger Geld zufrieden war, zu installieren.(11)
In der russischen Situation, wo politische Entscheidungen oft aus der jeweiligen
und zeitlich begrenzten Stärke bestimmter Personen und Gruppen im
Zentrum der Macht resultieren, ist ein solches Motiv denkbar, beweisen
läßt es sich aber auch nicht.
Krieg als innenpolitisches
Mittel
Die Ursachen für den jetzigen Krieg scheinen
ebenfalls weitestgehend innenpolitische Ursachen zu haben. Die grundsätzlichen
geostrategischen Interesses Rußlands sollen damit nicht negiert werden,
sie erklären jedoch nicht das aktuelle Interesse und den Zeitpunkt.
Ein Motiv war mit Sicherheit die Parlamentswahl im Dezember. Mit Ausbruch
des Krieges konnte die 'Partei der Macht' um Jelzin und Putin erhebliche
Popularitätsgewinne verzeichnen. Der Wahlblock 'Einheit/Bär'
ist mit 23,25% der gültigen Stimmen nach der KPRF zweitstärkste
Partei geworden. Die vorher so aussichtsreichen Konkurrenten um die Moskauer
und Petersburger Bürgermeister Luschkow und Jakowlew liegen mit ihrem
Wahlbündnis 'Vaterland/Ganz Rußland' mit 13,38% hinten.(12)
Wichtiger als das Ergebnis der Parlamentswahlen ist, daß mit Wladimir
Putin erstmals ein aussichtsreicher Nachfolger für das Präsidentenamt
bereitsteht. Nach der erfolgreichen Parlamentswahl hatte Jelzin die Gunst
der Stunde genutzt: Gab es mit Beginn des Krieges Spekulationen, dieser
würde durch die Verhängung des Ausnahmezustandes vor allem einer
Verlegung der Parlamentswahlen dienen, ist Jelzin am Sylvesterabend zurückgetreten,
und hat damit für vorgezogene Präsidentenwahlen gesorgt. Diese
waren für die Zeit vom 4. bis 25. Juni geplant, werden jetzt aber
voraussichtlich am 26. März stattfinden. Jelzin und seine 'Familie',
der engste Beraterkreis um den Präsidenten, haben seit Jahren nach
einem Nachfolger gesucht, der ihre Pfründe auch über die Präsidentschaft
Jelzins hinaus sichern würde, mit Putin wurde er gefunden. An dieser
Stelle kann man auch spekulieren, ob Putin Jelzin zum Rücktritt gezwungen
hat; insgesamt ist aber die jetzige Konstellation ein Ergebnis des Krieges.
Die Situation für einen Krieg war ebenfalls günstig. Die NATO
hat im vergangenen Jahr zwei wesentliche Schritte unternommen, die Rußland
in 'seiner' Einflußsphäre eingeschränkt hat. Die war zum
einen die Aufnahme von Polen, Tschechien und Ungarn in die NATO, zum anderen
der Krieg gegen Serbien. Mit ihrer Erweiterungsstrategie muß die
NATO der russischen Regierung Zugeständnisse machen, will sie das
Verhältnis nicht zu sehr zerrütten. Der Krieg gegen Serbien hat
die westlichen Staaten auch argumentativ geschwächt, denn er wurde
ebenso wie der Tschetschenienkrieg auch gegen die Zivilbevölkerung
geführt, es handelte und handelt sich nicht um saubere Operationen
auf dem Seziertisch. Der Krieg lenkt natürlich auch von der innenpolitischen
Situation und den sozialen Nöten eines Großteils der Bevölkerung
ab, die zum Teil hungert und friert. Im Frühsommer diesen Jahres wurde
in der Presse bekannt, daß die Regierung Gelder des IWF unterschlagen
und auf New Yorker Bankkonten transferiert hat. Ob dies außenpolitisch
einen Skandal darstellt, kann stark bezweifelt werden. Andernfalls müßten
westliche Politiker mit ziemlicher Ignoranz gegenüber den russischen
Verhältnissen geschlagen sein. Innenpolitisch ist es insofern bedeutsam,
als mindestens ein Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze
lebt und sich ein solcher Skandal bei den Wahlen bemerkbar machen kann.
Ausblick und Fazit
Zu Beginn des Angriffes der russischen Truppen
in Tschetschenien hatte man den Eindruck, daß der Krieg gegen Jugoslawien
als Vorbild diente. Massenhafte Luftangriffe, kein Bodenkontakt, Berichterstattung
war nicht möglich, dafür jede Menge Siegesmeldungen. Etwa vier
Wochen lang wurde die Hauptstadt Grosny aus der Luft bombardiert, erst
danach versuchten russische Bodentruppen die Stadt zu erobern. Dies scheint
ihnen mittlerweile auch gelungen zu sein. Grosny ist vollständig zerstört,
sehr viele Menschen sind bei den Angriffen ums Leben gekommen.(13)
Insgesamt ist der Krieg bisher ohne große Rücksichtnahme auf
die Bevölkerung geführt worden. In der russischen Presse werden
Generale mit der Auffassung zitiert, daß man alle Tschetschenen töten
müsse, um diesen Krieg zu gewinnen. Ein großer Teil der russische
Presse unterstützte diese Option, erst in letzter Zeit tauchen vermehrt
kritische Pressestimmen zum Kriegsgeschehen auf.(14)
An dieser Stelle paart sich der Zynismus der Militärs mit einer rassistischen
Grundstimmung in der Bevölkerung gegenüber "den Kaukasiern".
Auch die Aussagen der Regierung, daß man eine andere Stadt als Grosny
zur Hauptstadt machen könne (z.B. Gudermes), sprechen dafür,
daß es der russischen Regierung relativ gleich ist, was mit Tschetschenien
im Anschluß des Krieges geschieht. Ob die Armee den Krieg schließlich
gewinnen wird, ist Spekulation. Im Moment spricht einiges dafür, daß
sie die nördliche Hälfte Tschetscheniens einschließlich
der Hauptstadt Grosny militärisch erobern und halten können,
wie es dagegen in den Bergen im Süden ausgehen wird, ist offen. Was
dagegen sehr klar erscheint, ist die fehlende Perspektive, welche die russische
Regierung Tschetschenien anzubieten hat. Selbst wenn die russische Regierung
wollte, sie wäre nicht in der Lage, den Wiederaufbau Tschetscheniens
zu finanzieren. Rußland steckt bei einer Verschuldung von etwa 200
Mrd. US-Dollar und einen jährlichen föderalen Haushalt von etwa
20 bis 24 Mrd. US-Dollar in der Schuldenfalle.(15)
Insgesamt hat der aktuelle Krieg gegen Tschetschenien vornehmlich innenpolitische
Gründe. Die vielfältigen Motive, Absicherung des Ölexports,
die Erhaltung der staatlichen Integrität und grundsätzliche geostrategische
Annahmen bilden den Rahmen, sind aber wahrscheinlich nicht das auslösende
Moment. Bedient werden dagegen die kurzfristigen Motive des Machterhalts.
Eine längerfristige Lösung im Sinne der russischen Regierung
kann dieser Krieg nur unter einer Option bringen: Die vollständige
Entvölkerung des tschetschenischen Territoriums. Angesichts des Zynismus
der Regierung gegenüber der "eigenen" russischen Bevölkerung
sollte man sich keine Illusionen in der Politik gegenüber Tschetschenien
machen. Auch wäre die Entvölkerung real durchsetzbar, Tschetschenien
hat nur etwa 1 Million Einwohner, von denen sich sowieso schon mehrere
Hunderttausend auf der Flucht befinden. Da sich die grundlegende politische
und ökonomische Konstellation in Rußland auf absehbare Zeit
nicht ändern wird, kann man aber auch eine zukünftige konkrete
Politik des Präsidenten oder Regierung nicht abschätzen. Dabei
ist es unerheblich, ob der Präsident Jelzin hieß, oder demnächst
Putin (Primakow, Luschkow... und wer es alles gerne werden möchte).
Der Ausgang des Krieges und die Folgen für die Bevölkerung sind
somit offen.
Anmerkungen
(1) Das Wahlbündnis um den Präsidenten
Jelzin und den damaligen Ministerpräsidenten Putin, Einheit/Bär,
mag das jüngste Beispiel sein. Es wurde drei Monate vor der Parlamentswahl
aus der Taufe gehoben und besteht aus einem Bündnis verschiedenster
Gouverneure der Regionen, ein Parteiapparat existiert nicht.
(2) Sie formieren sich häufig um
die sogenannten 'finanziell-industriellen Komplexe', ein nach der Gesetzgebung
zugelassener Wirtschaftsverbund.
(3) Vgl. hierzu Clarke, Simon: The development
of industrial relation in Russia. Reprot for the ILO task force in industrial
relations. 1996.
(4) In der russischen Presse waren allerlei
Gerüchte und Spekulationen zu lesen. Unter anderem sollte Osama bin
Laden sogar über Atomwaffen verfügen und damit Rußland
und die restliche freie Welt bedrohen. Zumindest wird er von Putin als
Drahtzieher in Betracht gezogen: "The same terrorists who were associated
with the bombing of America's embassies have a foothold in the Caucasus.
We know that Shamil Basayev, the so-called Chechen warlord, gets assistance
on the ground from itinerant guerilla leaders with a dossier similar to
that of Osama bin Laden". (Putin in: St. Petersburg Times, 16. November
1999)
(5) Vgl. hier u.a. Putin, Vladimir: U.S.
should understand intervention in Chechnya. In: St. Petersburg Times, 16.
November 1999.
(6) Vgl. hierzu Hallbach, Uwe: Krieg in
Dagestan. In. Aktuelle Analysen des Bundesinstitut für ostwissenschaftliche
und internationale Studien, Nr. 28/1999 (18. August 1999).
(7) Schon Ende Mai hat es erste Angriffe
russischer Kampfhubschrauber auf Tschetschenien gegeben, mit der Begründung
Basislager der Terroristen zu zerstören (Halbach, Uwe: Regionale Dimensionen
des zweiten Tschetschenienkriegs. In: Aktuelle Analysen des Bundesinstituts
für ostwissenschaftliche und internationale Studiem, Nr. 1/2000, 3.
Januar 2000).
(8) Vgl. zu den Einwänden u.a. The
St. Petersburg Times vom 7./10./ 14./17./ 21. und 24. September 1999.
(9) Zu den Regionen vgl. Schneider, Eberhard:
Das politische System der Russischen Föderation. Opladen/Wiesbaden
1999.
(10) Zürcher, Christoph: "Krieg und
Frieden in Tschetchenien: Ursachen, Symbole, Interessen" in: Arbeitspapiere
des Bereichs Politik und Gesellschaft. Osteuropainstitut der FU Berlin,
2/1997
(11) Vgl. Zürcher, Christoph 1997
(12) Die vollständigen Wahlergebnisse
finden sich auf der Homepage des BIOst (www.biost.de//dumawahl/result02)
bzw. auf der Internetseite der Zentralen Wahlkommission der Russischen
Föderation (www.fci.ru).
(13) Allerdings ist auch hier Vorsicht
geboten, da der Propagandakrieg von allen Seiten geführt wird. Zu
Beginn des Ultimatums an die Zivilbevölkerung von Grosny, die Stadt
zu verlassen, wurden noch etwa 40'000 Zivilisten in der Stadt vermutet.
Jetzt, nach der Eroberung der Stadt, gibt es Anzeichen, daß sich
wesentlich weniger Menschen dort aufhielten und somit durch die Flächenbombardements
ums Leben kamen. (Vgl. Süddeutsche Zeitung, 11. Februar 2000)
(14) Vgl. u.a. die kritische Berichterstattung
in Nowaja Gazeta, 13. November 1999.
(15) Vgl. Götz, Roland: Die Wirtschafts-
und Finanzlage Rußlands vor den Dumawahlen 1999. In: Aus Politik
und Zeitgeschichte. Beilage zu Wochenzeitung Das Parlament, B 42/1999,
S. 14-20.