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Ausgabe 2/00   Seite 22ff

Die russische Regierung führt inzwischen den zweiten Krieg in Tschetschenien, der nach Souveränität strebenden kaukasischen Teilrepublik der Russischen Föderation. Der erste Krieg dauerte vom 11. Dezember 1994 bis zum 25. August 1996. In dieser Zeit wurden etwa 50.000 Zivilisten und 5.000 russische Soldaten getötet. Die Zahl der getöteten tschetschenischen Kämpfer ist unbekannt. Die offiziellen Begründung für den ersten Krieg war, die Ordnung und die Verfassung Rußlands auf dem tschetschenischen Territorium wieder herzustellen. Der jetzige Krieg wird mit der Bedrohung Rußlands und seiner Bürger durch islamistische Terroristen begründet. Die tatsächlichen Motive für die Kriege liegen jedoch fern der offiziellen Statements der Regierung und des Präsidenten, sie sind aber genauso wenig durch das alleinige Interesse am Erdöl zu erklären, wie es ein Teil der westlichen Medien derzeit versucht. Über die wirklichen Hintergründe lassen sich überhaupt keine dezidierten Aussagen treffen. Das Konglomerat unterschiedlichster Interessen ist zu groß und es ist in der jetzigen Situation auch nicht möglich, den Einfluß und die Stärke der verschiedenen Interessengruppen genau auszumachen.

Stefan Müller

Fortsetzung eines Krieges ohne Ende: Tschetschenien

Vorbemerkungen zur Politik in Rußland

Will man Aussagen über Rußland treffen, müssen zunächst einige grundlegende Annahmen ins Auge gefaßt werden. Wir haben es dort nicht mit einem stabilen politischen System mit festgefügten Strukturen zu tun. Es existieren keine politischen Organisationen oder Parteien, die eine bestimmte Schicht, Klasse oder Interessengruppe repräsentieren, deren politische Anliegen formulieren und in das politische System einbringen. Eine Ausnahme macht die Kommunistische Partei, die auf eine Geschichte, einen Apparat und in Teilen auf die Mitgliedschaft der Sowjetunion zurückgreifen kann. Sämtliche anderen 'Parteien' sind eher Wahlblöcke, die auf kurzfristigen Bündnissen basieren, nach dem Erfolg oder dem Scheitern entsprechend schnell wieder zusammenfallen.(1) Auch der Staat bildet keinen einheitlichen Apparat, noch kann behauptet werden, daß er über die für einen Staatsapparat typische Durchsetzungsfähigkeit verfügt. Es gilt eher der Witz, daß die Erlasse des Präsidenten außerhalb des Moskauer Autobahnrings eine unverbindliche Diskussionsgrundlage darstellen. Der Präsident und sein Apparat verfügen gemäß der Verfassung zwar über erhebliche Macht, er ist in den Regionen Rußlands jedoch nur sehr begrenzt in der Lage, diese auch durchzusetzen. Die russischen Situation ist vielmehr gekennzeichnet durch verschiedene politisch-ökonomische Interessengruppen, die um Macht, Einfluß und staatliche Zuwendungen ringen.(2) Diese Bündnisse gruppieren sich um Wirtschaftsstandorte, um Regionen oder auch um bestimmte politische und personelle Zugänge zu den Machtzentren. Einige Autoren behaupten sogar, daß der Staatsapparat selbst nur ein Teil dieser unterschiedlichen Interessensblöcke sei.(3) Als relativ stabile Einheiten können dagegen die Armee und die Geheimdienste angenommen werden. Es ist jedoch schwierig, den Einfluß der Armee auf die politischen Entscheidungen zu analysieren. In der sowjetischen Geschichte wurde die Armee unter Stalin jeglicher politischer Entscheidungen enthoben, die Führungsspitze wurde während der Schauprozesse der dreißiger Jahren sogar umgebracht. Über den Einfluß der Geheimdienste kann man, in der Natur der Sache liegend, keine Aussagen machen. Die Rekrutierung Wladimir Putins - vorher Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB (einer von mehreren Nachfolgediensten des aufgelösten KGB) - zum Ministerpräsidenten durch Jelzin kurz vor Beginn des zweiten Krieges kann natürlich als Indiz für einen entsprechenden Einfluß gelten. Auch der frühere Ministerpräsident Primakow gehörte zum Geheimdienst und Stepaschin war Polizeigeneral. All dies läßt auf einen Einfluß des Geheimdienstes auf das Machtzentrum schließen, alles genauere bewegt sich jedoch im Bereich der Spekulation.

Beginn der Kämpfe in Dagestan

Der aktuelle Krieg in Tschetschenien begann nach offiziellen Aussagen mit dem Einmarsch tschetschenischer Rebellen in die russische Teilrepublik Dagestan am 6. August 1999. Vier Tage später riefen die tschetschenischen Kommandos dort einen 'unabhängigen islamischen Staat Dagestan aus'. In den darauf folgenden Wochen konnten die russischen Truppen gemeinsam mit dagestanischen Freiwilligen die Rebellen wieder zurückdrängen. Zur selben Zeit (Mitte August bis Anfang September) wurden in Moskau, Wolgadonsk und der dagestanischen Stadt Bujnask Bombenattentate auf Einkaufszentren und Wohnhäuser verübt, bei denen 300 Menschen ums Leben kamen. Für diese Anschläge wurden in der Folge tschetschenische Terroristen verantwortlich gemacht. Die Urheber reichen nach russischer Lesart von den tschetschenischen Feldkommandanten Bassajew und Chattab, unterstützt durch pakistanische Söldner, bis hin zum Superterroristen Osama bin Laden.(4) Am 3. September dringen etwa 2000 Rebellen erneut nach Dagestan ein und besetzen dort mehrere Dörfer. Mitte September fängt die russische Armee an, mehrere Zehntausend Soldaten an der Grenze zu Tschetschenien zusammenzuziehen, am 23. September kommt es zu ersten Bombenangriffen auf die Hauptstadt Grosny und am 1. Oktober dringen russische Bodentruppen nach Tschetschenien ein. Der Einmarsch der russischen Truppen wird mit der Bekämpfung des Banditentums und der von Tschetschenien ausgehenden terroristischen Gefahr begründet.(5) An dieser offiziellen Version sind allerdings erhebliche Zweifel angebracht. Die Infiltration tschetschenischer Kämpfer nach Dagestan ist im Grunde nichts Neues, schon Monate vorher sickerten immer wieder Kämpfer ein und lieferten sich Gefechte mit regionalen Milizen bzw. russischen Einheiten an der Grenze der beiden Republiken. Man muß fragen, warum die russische Regierung und auch die Presse erst ab August darauf reagierten. Schon 1997 hatten sich einige Dörfer in Dagestan zu 'unabhängigen islamischen Territorien' erklärt und den regionalen Behörden über Monate hinweg Widerstand geleistet. Die Auseinandersetzungen endeten in einer Pattsituation, die Dörfer leben seitdem unter dem Recht der Scharia.(6) Der Angriff von bewaffneten Gruppen ist mit Sicherheit kein freundlicher Akt und militärische Reaktionen hierauf auch kein Wunder. Es stellt sich nur die Frage, warum Rebellen in Dagestan einmarschieren, einen Konflikt und darauf folgend einen Krieg riskieren, der zur weitestgehenden Zerstörung ihrer Heimat, ihrer militärischen Basen und möglicherweise der ganzen Guerilla führt. Der ehemalige Ministerpräsident Stepaschin (der Vorgänger von Putin) liefert zur Zeit eine mögliche Erklärung hierfür. Demnach habe der Kreml einen Angriff auf Tschetschenien schon im Frühjahr oder Sommer geplant. Die tschetschenischen Kämpfer hätten folglich nur die Front nach vorne verlegt und somit versucht, den russischen Angriff auf den Winter zu verschieben. Stepaschin ist nach eigenen Äußerungen vom Ministerpräsidentenamt entlassen worden, da er sich geweigert hat, Krieg zu führen.(7)

Kampf gegen Terroristen?

Die Bombenattentate auf russische Wohnhäuser haben zu einer massiven Popularität des Krieges unter der russischen Bevölkerung geführt. Gab es im ersten Tschetschenienkrieg in der Bevölkerung noch erheblichen Widerstand, es sei hier nur an die Soldatenmütter erinnert, wurden zu Beginn dieses Krieges kaum Stimmen laut. Alle Parteien des Parlaments haben sich für den Krieg ausgesprochen, auch diejenigen, die im ersten noch opponierten. Es gibt für eine tschetschenische Urheberschaft der Attentate noch keine Beweise, obwohl die Regierung diese schon lange versprochen hat. Einige Indizien sprechen sogar eher dagegen:

Motive des militärischen Eingreifens

Welches sind die Motive für die russischen Feldzüge in Tschetschenien? Diese sind nicht in der Eindeutigkeit festzumachen, wie es in der westlichen Welt versucht wird. Man könnte meinen, daß Rußland nationale Interessen in Tschetschenien verfolgt und versucht, die staatliche Souveränität aufrecht zu erhalten. Diesem Erklärungsversuch soll zumindest ein Einwand entgegengehalten werden. Ein großer Teil der russischen Regionen hat seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einen enormen Machtzuwachs erhalten. Als ein Beispiel sei die Republik Tartastan genannt, die auf der Basis bilateraler Verträge mit der Moskauer Zentralgewalt über quasi nationalstaatliche Souveränität verfügt. Die Republik Tartastan regelt beispielsweise die Staatsangehörigkeit selbst, darf eigenständig internationale und außenwirtschaftliche Beziehungen aufnehmen und hat eine eigene Nationalbank; alles Momente, die für eine relative Autonomie von der Zentralgewalt sprechen. Die Außenwirtschaftsbeziehungen fallen sogar in die vollständige Autonomie Tartastans.(9) Der Zusammenhalt Rußlands funktioniert weitgehend über bilaterale Abkommen, welche die Rechte des Parlaments, dem eigentlichen Entscheidungsträger in einer parlamentarischen Demokratie, umgehen. Auch die Rolle der Zentralgewalt wird durch die große Autonomie der Regionen erheblich in Frage gestellt. Sicherlich liegt es im Interesse des Machtzentrums, die nationale Integrität Rußlands zu erhalten. Es soll jedoch bezweifelt werden, daß dies der ausschlaggebende Moment für einen militärischen Angriff war, da der Kreml im Umgang mit den Regionen zugleich eine hohe Flexibilität aufweist. Sicherlich ist auch richtig, daß das "Tschetschenienproblem" nach dem ersten Krieg nicht gelöst war. Der erste Krieg endete damit, daß der letztliche Status Tschetscheniens durch den Friedensvertrag vom 25. August 1996 nur verschoben wurde. Es wurde eine Absichtserklärung verfaßt, bis zum Jahr 2001 zu einer politischen Lösung des Konfliktes zu kommen. Aber auch dies erklärt noch nicht den aktuellen Konflikt. Generell muß man fragen, ob die Akteure in Rußland überhaupt in der Lage sind, "nationale Interessen" zu formulieren. Hierzu bedarf es eines starken Blocks an der Macht mit einer gewissen hegemonialen Reichweite über die konkurrierenden Gruppen. Solch ein Block, der vermitteln und ausgleichen kann, der in der Lage ist, für die ökonomischen und politischen Akteure Interessen zu formulieren, existiert nicht. Der rasche Wechsel von einem Ministerpräsidenten zum nächsten innerhalb kürzester Zeit scheint gerade das Gegenteil zu belegen, nämlich die jeweils nur kurzfristige Hoheit einer Gruppe über die anderen. Ein weiteres Motiv, das angeboten wird, sind die Erdölvorkommen in Tschetschenien bzw. die im kaspischen Meer. Von der aserbaidschanischen Stadt Baku laufen die Pipelines über die dagestanische Hafenstadt Mahatschkala und durch Tschetschenien zum russischen Hafen Noworossijsk. Die Erdölvorräte in Tschetschenien sind relativ gering und die Produktion ist in den Jahren nach 1991 erheblich zurückgegangen. Die Fördermenge betrug 1993 weniger als 1% der Gesamtfördermenge der Russischen Föderation.(10) Was die Kontrolle der Erdölleitungen betrifft, muß man sich fragen, ob es nicht sinnvoller wäre, diese um Tschetschenien herumzuleiten. Dies würde sicherlich einige Zeit in Anspruch nehmen, jedoch wäre, bei einem mehrjährigen Guerillakrieg, damit ein Schutz der Ölleitungen garantiert. Von strategischem Interesse für die Ölleitungen ist Dagestan, weniger aber Tschetschenien. Sicherlich von Bedeutung sind geostrategische Interessen Rußlands im Kaukasus. An der Westgrenze hat Rußland mit Polen inzwischen direkten Kontakt zu einem NATO-Staat und die drei baltischen Staaten möchten ebenfalls in die NATO. Trotz des Geredes von Sicherheitspartnerschaft, wird die NATO auch in Zukunft andere Interessen verfolgen als Rußland. Der Kaukasus ist die Südflanke Rußlands, die zunehmend aufgeweicht worden ist. Aserbaidschan und Georgien haben in den letzten Jahren engere Kontakte mit den USA geschlossen und der NATO-Staat Türkei versucht in der Region an Einfluß zu gewinnen (vor allem in den asiatischen Teilen Rußlands). Sicherheitspolitisch hat Rußland dort vitale Interessen. Dieses Motiv ist jedoch so allgemein, das es die konkrete Situation wenig erklärt. Einige russische Autoren und Medien gehen davon aus, daß Korruptionsgewinne für den ersten Krieg eine wesentliche Ursache waren. Demnach hatten der damalige russische Verteidigungsminister, der Nationalitätenminister und der Vizepremier mit dem damaligen tschetschenien Präsidenten Dudajew über Tschetschenien einen regen Waffenhandel betrieben. Der Krieg war nun der Versuch, einen den Russen genehmeren Zwischenhändler, der mit weniger Geld zufrieden war, zu installieren.(11) In der russischen Situation, wo politische Entscheidungen oft aus der jeweiligen und zeitlich begrenzten Stärke bestimmter Personen und Gruppen im Zentrum der Macht resultieren, ist ein solches Motiv denkbar, beweisen läßt es sich aber auch nicht.

Krieg als innenpolitisches Mittel

Die Ursachen für den jetzigen Krieg scheinen ebenfalls weitestgehend innenpolitische Ursachen zu haben. Die grundsätzlichen geostrategischen Interesses Rußlands sollen damit nicht negiert werden, sie erklären jedoch nicht das aktuelle Interesse und den Zeitpunkt. Ein Motiv war mit Sicherheit die Parlamentswahl im Dezember. Mit Ausbruch des Krieges konnte die 'Partei der Macht' um Jelzin und Putin erhebliche Popularitätsgewinne verzeichnen. Der Wahlblock 'Einheit/Bär' ist mit 23,25% der gültigen Stimmen nach der KPRF zweitstärkste Partei geworden. Die vorher so aussichtsreichen Konkurrenten um die Moskauer und Petersburger Bürgermeister Luschkow und Jakowlew liegen mit ihrem Wahlbündnis 'Vaterland/Ganz Rußland' mit 13,38% hinten.(12) Wichtiger als das Ergebnis der Parlamentswahlen ist, daß mit Wladimir Putin erstmals ein aussichtsreicher Nachfolger für das Präsidentenamt bereitsteht. Nach der erfolgreichen Parlamentswahl hatte Jelzin die Gunst der Stunde genutzt: Gab es mit Beginn des Krieges Spekulationen, dieser würde durch die Verhängung des Ausnahmezustandes vor allem einer Verlegung der Parlamentswahlen dienen, ist Jelzin am Sylvesterabend zurückgetreten, und hat damit für vorgezogene Präsidentenwahlen gesorgt. Diese waren für die Zeit vom 4. bis 25. Juni geplant, werden jetzt aber voraussichtlich am 26. März stattfinden. Jelzin und seine 'Familie', der engste Beraterkreis um den Präsidenten, haben seit Jahren nach einem Nachfolger gesucht, der ihre Pfründe auch über die Präsidentschaft Jelzins hinaus sichern würde, mit Putin wurde er gefunden. An dieser Stelle kann man auch spekulieren, ob Putin Jelzin zum Rücktritt gezwungen hat; insgesamt ist aber die jetzige Konstellation ein Ergebnis des Krieges. Die Situation für einen Krieg war ebenfalls günstig. Die NATO hat im vergangenen Jahr zwei wesentliche Schritte unternommen, die Rußland in 'seiner' Einflußsphäre eingeschränkt hat. Die war zum einen die Aufnahme von Polen, Tschechien und Ungarn in die NATO, zum anderen der Krieg gegen Serbien. Mit ihrer Erweiterungsstrategie muß die NATO der russischen Regierung Zugeständnisse machen, will sie das Verhältnis nicht zu sehr zerrütten. Der Krieg gegen Serbien hat die westlichen Staaten auch argumentativ geschwächt, denn er wurde ebenso wie der Tschetschenienkrieg auch gegen die Zivilbevölkerung geführt, es handelte und handelt sich nicht um saubere Operationen auf dem Seziertisch. Der Krieg lenkt natürlich auch von der innenpolitischen Situation und den sozialen Nöten eines Großteils der Bevölkerung ab, die zum Teil hungert und friert. Im Frühsommer diesen Jahres wurde in der Presse bekannt, daß die Regierung Gelder des IWF unterschlagen und auf New Yorker Bankkonten transferiert hat. Ob dies außenpolitisch einen Skandal darstellt, kann stark bezweifelt werden. Andernfalls müßten westliche Politiker mit ziemlicher Ignoranz gegenüber den russischen Verhältnissen geschlagen sein. Innenpolitisch ist es insofern bedeutsam, als mindestens ein Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt und sich ein solcher Skandal bei den Wahlen bemerkbar machen kann.

Ausblick und Fazit

Zu Beginn des Angriffes der russischen Truppen in Tschetschenien hatte man den Eindruck, daß der Krieg gegen Jugoslawien als Vorbild diente. Massenhafte Luftangriffe, kein Bodenkontakt, Berichterstattung war nicht möglich, dafür jede Menge Siegesmeldungen. Etwa vier Wochen lang wurde die Hauptstadt Grosny aus der Luft bombardiert, erst danach versuchten russische Bodentruppen die Stadt zu erobern. Dies scheint ihnen mittlerweile auch gelungen zu sein. Grosny ist vollständig zerstört, sehr viele Menschen sind bei den Angriffen ums Leben gekommen.(13) Insgesamt ist der Krieg bisher ohne große Rücksichtnahme auf die Bevölkerung geführt worden. In der russischen Presse werden Generale mit der Auffassung zitiert, daß man alle Tschetschenen töten müsse, um diesen Krieg zu gewinnen. Ein großer Teil der russische Presse unterstützte diese Option, erst in letzter Zeit tauchen vermehrt kritische Pressestimmen zum Kriegsgeschehen auf.(14) An dieser Stelle paart sich der Zynismus der Militärs mit einer rassistischen Grundstimmung in der Bevölkerung gegenüber "den Kaukasiern". Auch die Aussagen der Regierung, daß man eine andere Stadt als Grosny zur Hauptstadt machen könne (z.B. Gudermes), sprechen dafür, daß es der russischen Regierung relativ gleich ist, was mit Tschetschenien im Anschluß des Krieges geschieht. Ob die Armee den Krieg schließlich gewinnen wird, ist Spekulation. Im Moment spricht einiges dafür, daß sie die nördliche Hälfte Tschetscheniens einschließlich der Hauptstadt Grosny militärisch erobern und halten können, wie es dagegen in den Bergen im Süden ausgehen wird, ist offen. Was dagegen sehr klar erscheint, ist die fehlende Perspektive, welche die russische Regierung Tschetschenien anzubieten hat. Selbst wenn die russische Regierung wollte, sie wäre nicht in der Lage, den Wiederaufbau Tschetscheniens zu finanzieren. Rußland steckt bei einer Verschuldung von etwa 200 Mrd. US-Dollar und einen jährlichen föderalen Haushalt von etwa 20 bis 24 Mrd. US-Dollar in der Schuldenfalle.(15) Insgesamt hat der aktuelle Krieg gegen Tschetschenien vornehmlich innenpolitische Gründe. Die vielfältigen Motive, Absicherung des Ölexports, die Erhaltung der staatlichen Integrität und grundsätzliche geostrategische Annahmen bilden den Rahmen, sind aber wahrscheinlich nicht das auslösende Moment. Bedient werden dagegen die kurzfristigen Motive des Machterhalts. Eine längerfristige Lösung im Sinne der russischen Regierung kann dieser Krieg nur unter einer Option bringen: Die vollständige Entvölkerung des tschetschenischen Territoriums. Angesichts des Zynismus der Regierung gegenüber der "eigenen" russischen Bevölkerung sollte man sich keine Illusionen in der Politik gegenüber Tschetschenien machen. Auch wäre die Entvölkerung real durchsetzbar, Tschetschenien hat nur etwa 1 Million Einwohner, von denen sich sowieso schon mehrere Hunderttausend auf der Flucht befinden. Da sich die grundlegende politische und ökonomische Konstellation in Rußland auf absehbare Zeit nicht ändern wird, kann man aber auch eine zukünftige konkrete Politik des Präsidenten oder Regierung nicht abschätzen. Dabei ist es unerheblich, ob der Präsident Jelzin hieß, oder demnächst Putin (Primakow, Luschkow... und wer es alles gerne werden möchte). Der Ausgang des Krieges und die Folgen für die Bevölkerung sind somit offen.

Anmerkungen
(1) Das Wahlbündnis um den Präsidenten Jelzin und den damaligen Ministerpräsidenten Putin, Einheit/Bär, mag das jüngste Beispiel sein. Es wurde drei Monate vor der Parlamentswahl aus der Taufe gehoben und besteht aus einem Bündnis verschiedenster Gouverneure der Regionen, ein Parteiapparat existiert nicht.
(2) Sie formieren sich häufig um die sogenannten 'finanziell-industriellen Komplexe', ein nach der Gesetzgebung zugelassener Wirtschaftsverbund.
(3) Vgl. hierzu Clarke, Simon: The development of industrial relation in Russia. Reprot for the ILO task force in industrial relations. 1996.
(4) In der russischen Presse waren allerlei Gerüchte und Spekulationen zu lesen. Unter anderem sollte Osama bin Laden sogar über Atomwaffen verfügen und damit Rußland und die restliche freie Welt bedrohen. Zumindest wird er von Putin als Drahtzieher in Betracht gezogen: "The same terrorists who were associated with the bombing of America's embassies have a foothold in the Caucasus. We know that Shamil Basayev, the so-called Chechen warlord, gets assistance on the ground from itinerant guerilla leaders with a dossier similar to that of Osama bin Laden". (Putin in: St. Petersburg Times, 16. November 1999)
(5) Vgl. hier u.a. Putin, Vladimir: U.S. should understand intervention in Chechnya. In: St. Petersburg Times, 16. November 1999.
(6) Vgl. hierzu Hallbach, Uwe: Krieg in Dagestan. In. Aktuelle Analysen des Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Nr. 28/1999 (18. August 1999).
(7) Schon Ende Mai hat es erste Angriffe russischer Kampfhubschrauber auf Tschetschenien gegeben, mit der Begründung Basislager der Terroristen zu zerstören (Halbach, Uwe: Regionale Dimensionen des zweiten Tschetschenienkriegs. In: Aktuelle Analysen des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studiem, Nr. 1/2000, 3. Januar 2000).
(8) Vgl. zu den Einwänden u.a. The St. Petersburg Times vom 7./10./ 14./17./ 21. und 24. September 1999.
(9) Zu den Regionen vgl. Schneider, Eberhard: Das politische System der Russischen Föderation. Opladen/Wiesbaden 1999.
(10) Zürcher, Christoph: "Krieg und Frieden in Tschetchenien: Ursachen, Symbole, Interessen" in: Arbeitspapiere des Bereichs Politik und Gesellschaft. Osteuropainstitut der FU Berlin, 2/1997
(11) Vgl. Zürcher, Christoph 1997
(12) Die vollständigen Wahlergebnisse finden sich auf der Homepage des BIOst (www.biost.de//dumawahl/result02) bzw. auf der Internetseite der Zentralen Wahlkommission der Russischen Föderation (www.fci.ru).
(13) Allerdings ist auch hier Vorsicht geboten, da der Propagandakrieg von allen Seiten geführt wird. Zu Beginn des Ultimatums an die Zivilbevölkerung von Grosny, die Stadt zu verlassen, wurden noch etwa 40'000 Zivilisten in der Stadt vermutet. Jetzt, nach der Eroberung der Stadt, gibt es Anzeichen, daß sich wesentlich weniger Menschen dort aufhielten und somit durch die Flächenbombardements ums Leben kamen. (Vgl. Süddeutsche Zeitung, 11. Februar 2000)
(14) Vgl. u.a. die kritische Berichterstattung in Nowaja Gazeta, 13. November 1999.
(15) Vgl. Götz, Roland: Die Wirtschafts- und Finanzlage Rußlands vor den Dumawahlen 1999. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu Wochenzeitung Das Parlament, B 42/1999, S. 14-20.
 

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