Home * Bestellformular * mailto:redaktion@antimilitarismus-information.de * Homepage-Suche * Jahrgänge

back!

Ausgabe 7/00   Seite 13ff

Der Artikel gibt einen Überblick über die Medienstimmung in den Tagen um den 1. Mai. Es läßt sich zeigen, daß eine Atmosphäre der Bedrohung erzeugt wurde, in der dann gezielt Themen "Innerer Sicherheit" positioniert wurden, die auf den Abbau von Bürgerrechten zielen, insbesondere des Demonstrationsrechts. Demgegenüber schlage ich eine gegenöffentliche Strategie vor, die aus der lähmenden und zugleich repressiv instrumentalisierbaren Fokussierung der bürgerlichen Medien(1) auf die Gewaltproblematik herausführt.

Öffentlichkeit und Instrumentalisierung am 1. Mai

Die Stimmung um den 1. Mai

Die öffentliche Wahrnehmung ist massiv geprägt durch die mediale Vorbereitung und Vermittlung von Ereignissen. Das medialisierte Ereignis überwiegt in der Gesamtstimmung das eigentliche Ereignis um ein Vielfaches. Der Charakter der öffentlichen Stimmung ist also durch die Berichterstattung erzeugt, die in ihrer überwiegenden Mehrheit eine bürgerliche ist, und nicht durch das Ereignis selbst. Mit Blick auf den 1. Mai in Berlin heißt das, daß das Thema und der kritische Anspruch der "Revolutionärer 1. Mai"- Demonstration nicht nur nicht ernst genommen, sondern schlicht übergangen, verschwiegen wurden.(2) 95% der Berichterstattung bezogen sich auf die zu erwartende (!) Gewaltproblematik im Zusammenhang mit der Demonstration.

Vorfeldberichterstattung

Die Vorfeldberichterstattung stellt in erster Linie die Vorbereitung der Polizei dar - allerdings in sehr enger Anlehnung an die Presseerklärungen aus dem Polizeipräsidium. Die Notwendigkeit eines besonderen Einsatzes wird damit bereits stillschweigend hingenommen. Mit ihrem Blick auf die "Gewaltträchtigkeit" der Demonstration wird das gesamte Vorhaben, das ja in erster Linie ein politisches ist, undifferenziert dämonisiert. Die so aufgeputschte, aggressionsschwangere und gleichzeitig ängstliche Presseöffentlichkeit bewirkt nun gemäß der bekannten Mechanismen einer self fulfilling prophecy genau das Gegenteil dessen, was sie vorgibt zu wollen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den vorgebrachten politischen Kritikpunkten und Forderungen findet gar nicht erst statt. Selbst eine vernichtende Kritik des inhaltlichen Anliegens findet sich nirgends in der bürgerlichen Presse. Dieses Spektrum der Medienlandschaft, das einen Anspruch auf Ausgewogenheit, Objektivität und Vollständigkeit der Berichterstattung von und für eine pluralistische Öffentlichkeit erhebt, entwickelt keinerlei Interesse (nicht einmal ein ablehnendes) für die inhaltlich-politische Dimension des Revolutionären 1. Mai. Die Foren dieser Diskussion(3) werden schlicht und einfach ignoriert und ohne inhaltliche Rezeption und Differenzierung angesichts der Gewaltproblematik als Bestandteile eines linksradikalen, militanten Spektrums kriminalisiert. Darüber hinaus funktioniert die alte "Extremismusmasche": Die Demoverbote gegen die Kreuzberger Demo und die Nazi-Demo am selben Vormittag in Hellersdorf werden vor dem Hintergrund der Aufrechterhaltung der Versammlungsfreiheit implizit in gleichsetzender Weise abgehandelt. Die demokratische Mitte der Gesellschaft müsse vor den Extremisten beider Seiten geschützt werden. Im Grunde stehe auch nur dieser Mitte das Demonstrationsrecht noch zu, in deren Interesse sei es auch vor dem Mißbrauch durch die Extremisten zu schützen. Doch wofür sollte die Neue Mitte auf die Straße gehen?

Nachberichterstattung

Die Nachberichterstattung kümmert sich um die Schuldfrage in bezug auf den "unfriedlichen Verlauf" der Demo. Der friedliche Verlauf vor Erreichen des Kundgebungsplatzes bleibt weitestgehend unberücksichtigt. Das gilt selbst für die beiden löblichen Versuche, die Veranstalterseite der Demonstration in die Berichterstattung miteinzubeziehen.(4) Dargestellt werden die Spitzen der tatsächlichen Polizeigewalt - allerdings in einem kommentierenden Kontext des "dramatischen Einzelfalles": In diesem Jahr wurden gar die Personenschützer des Polizeipräsidenten Saberschinskis durch eine zivile Beobachtungsgruppe der Kripo beim Prügeln erwischt. Der Zwischenfall erregte als solcher die bürgerlichen Medien und die Boulevardpresse.(5) Allerdings wurde über das weitere Verfahren gegen die Beamten kaum noch berichtet. Nur kurz notiert wird die Verhaftung eines Leipziger Polizisten in zivil beim Flaschenwerfen auf die Polizei.(6) Sollte es hier auch auf Polizeiseite zu Verwirrung durch eine Überzahl von zivilpolizeilichen agents provocateurs gekommen sein? Nicht einmal die Fragestellung taucht irgendwo auf. Die Häufung der Einzelfälle über die Jahre bei bestimmten Anlässen bleibt unbeachtet und unkommentiert. Eine Reflexion polizeitaktischer oder -strategischer Überlegungen(7) der letzten Jahre und Jahrzehnte unterbleibt.(8) So übersieht bzw. blendet die Öffentlichkeit die strukturelle Entwicklung hin zur faktischen Aufstandsbekämpfung (Schulung der Beamten unter behaupteten Echtbedingungen statt einer angemessenen Demobegleitung) bei Anlässen politischer Massenartikulation aus.

Gerade unter dem von den bürgerlichen Medien selbst gewählten Fokus der Gewaltproblematik müßte dies jedoch erkannt und kritisiert werden. Genau im letztgenannten Punkt offenbart sich die subtile Komplizität bzw. zeigen sich überschneidende Interessenlagen zwischen Produzenten bürgerlicher Öffentlichkeit und Vertretern einer Politischen Klasse der "Inneren Sicherheit": Auch der seriöseste Journalismus muß letztendlich im Quotenwettbewerb gegen Titten und Katastrophen bestehen. Hierbei helfen zwei kleine Feuerchen in der Oranienstraße, zur Barrikade großgefilmt, auch den Tagesthemen eher als eine unbequem-bohrende Recherche im Umfeld des Polizeiapparates mit dem Ziel, die propagierte Deeskalation mit den dort gepflegten Eskalationsstrategien und -potentialen zu konterkarieren. Aber auch "redaktionell" zeigt sich eine Leitlinie der bürgerlichen Medien: Es offenbart sich ein Politikverständnis, aus dem heraus die Leitartikel mehr als skeptisch reagieren gegen jede politische Regung außerhalb der vorgesehenen (parteilich-parlamentarisch-lobbyistischen) Bahnen. Politischer Unmut, der militante Ausdrucksformen nicht grundsätzlich ablehnt, wird letzlich pauschal stigmatisiert(9) oder gar unbelastet von jeglicher analytischen Arbeit lächerlich gemacht ("alles Mai-Rituale"(10)). Die Systemfrage, sobald sie ernstgemeint von unten-außen kommt, wird nicht zugelassen oder gar zur Diskussion gestellt. Der Vorwurf gegen die Produzenten veröffentlichter Meinung lautet: Kritikfreier Verlautbarungsjournalismus im Quotenkampf.

Instrumentalisierung der öffentlichen Stimmung

In der durch derartige Vor- und Nachberichterstattung erzeugten Situation von Aufgeregtheit und Angst vor "Links- und Rechtsextremismus" gelingt es den Verfechtern einer repressiven Politik "Innerer Sicherheit", ihre Themen wirkungsvoll zu plazieren. Um den 1. Mai 2000 wurden so folgende Vorhaben lanciert, propagiert bzw. praktiziert: "Vorbereitende Besuche" bei "bekannten Störern" (als Praxis bereits durchgeführt), eine Razzia bei Isakra e.V./AAB(11) am 25.4.00, die polizeiliche Teilräumung der Rigaer Str. 94 am 27.4.00, "präzisiertes Versammlungsrecht" und "befriedeter Bezirk" (Innensenator Werthebach, CDU)(12), Bannmeile (CSU-BT-Fraktion), erleichterte Demonstrationsverbote, generelle Demonstrationssperrzonen (ausdrückliches Vorbild: Olympia München 1972), präventive Festnahmen (nach dem Berliner ASOG, z.B. wegen Vermummungsgegenständen: Schals, Fahrradhandschuhe, Mützen...).

Auffallend ist in diesem Zusammenhang der mangelhaft formulierte, daher erfolglose Demoverbotserlaß gegen die Nazidemo in Hellersdorf am Vormittag des 1. Mai. Er wurde damit begründet, daß zu wenig Polizeikapazitäten vorhanden seien, um die Sicherheit garantieren zu können. Hier wird kalkuliert bis weit ins linke Spektrum die Illusion genährt, es bedürfe stärkerer Möglichkeiten gegen unliebsame Demonstrationen.(13) Die Vorstellungen des Innensenators, der treibenden Kraft hinter der politischen Instrumentalisierung dieses Jahres, sind zusammengefaßt in einem eigens veröffentlichten "Eckpunktepapier"(14). Zu diesem Papier und den Bemühungen Werthebachs konnte man den Bundesinnenminister Schily (SPD) vernehmen: "Keine Denkverbote!".

Aber die günstige Gelegenheit zur Präsentation reaktionärer Ideen im Themengebiet "Innere Sicherheit" wurde auch über das engere Thema Versammlungsrecht hinaus genutzt: Der Regierende Bürgermeister und Justizsenator Diepgen (CDU) kündigte die Wiedereinrichtung der sogenannten P-Abteilung der Staatsanwaltschaft an, einer eigens für die Verfolgung politischer Gegner zuständige Abteilung der Staatsanwaltschaft, die in den späten 70er und 80er Jahren schon schwer in Verruf geriet und deshalb abgeschafft wurde.(15) Auch die Forderung nach Ausweitung von Videoüberwachung auf "öffentliche Plätze" (Werthebach) tauchte erstmals ausdrücklich und öffentlich in Berlin auf. Der Berliner CDU/SPD-Koalitionsvertrag sieht zwar bereits "streng objektbeschränkte" Videoüberwachung vor. Die Bundesinnenministerkonferenz verständigte sich jedoch bereits darauf, "Brennpunkte der Straßenkriminalität" zu überwachen.(16) Gänzlich unbeachtet blieb allerdings die bereits routinemäßig stattfindende, flächendeckende Videoerfassung und -überwachung des Demonstrationszuges.(17) Sie wird nirgends öffentlich problematisiert und kritisiert - die Strategie des "Wegfilmens des Versammlungsrechts" nicht als solche erkannt: Woran orientieren sich wohl präventive Festnahmen im Vorfeld einer derartigen Demonstration? Woher weiß denn der Apparat, wen er vor der Demonstration einschüchternd "präventiv" besuchen könnte?

Fazit

Reflektierte Gegenstimmen fehlen fast völlig oder können sich in den bürgerlichen Medien kein Gehör verschaffen und bleiben so kraft- und wirkungslos. Artikulation bleibt jedoch notwendig und in radikaler Weise m.E. nur im Rahmen von Gegenöffentlichkeit möglich.(18)

Zunächst ließe sich die Gewaltfokussierung der bürgerlichen Medien aufnehmen, indem man sie in der Darstellung um den Beitrag der Gewaltapparate komplettiert. Hinzu kommen muß dann die Herausarbeitung und Kritik der strukturellen Gewalt, die die inhaltlichen Themen und damit die Notwendigkeit der Demonstration erst liefert. Zuletzt ist (unter dem Gewaltaspekt) die radikale Analyse und Delegitimierung der zugrunde liegenden kulturellen Gewalt (den ideologischen Gebilden zur Rechtfertigung staatlich-legitimer Gewaltanwendung) zu leisten. In erster Linie ziele ich hier auf das Konstrukt der "Inneren Sicherheit" selbst als der Gewaltrechtfertigung nach Innen bis an die Staatsgrenzen (neuerdings auch Europas). Analog funktioniert auch die Gewaltrechtfertigung nach Außen: Hier heißt das anzugreifende Ideologem "humanitäre Militärintervention".

Durch dieses Abarbeiten der Gewaltbegriffe kann es gelingen, die bürgerliche Fokussierung auf die direkte Gewalt aufzubrechen und in Richtung des ursprünglichen inhaltlichen Anliegens selbst zu öffnen? eus

Anmerkungen:
(1) Die bürgerlichen Medien, damit meine ich in erster Linie die meinungsführenden Organe wie z.B. FAZ, SZ, FR, taz, Welt, Zeit, Spiegel, für Berliner Zusammenhänge ergänzt durch Berliner Zeitung, Tagesspiegel, Morgenpost. Sie stecken in der Regel den Rahmen des Diskurses, aus dem in bezug auf das Thema Revolutionärer 1. Mai auch die Fernsehberichterstattung und die regionalen Tageszeitungen (so sie denn überhaupt berichten) nicht ausbrechen. 
(2) Einer der Veranstalter lädt in der Broschüre mit dem sicherlich provokanten aber eben auch ironischen Titel "Sie können Deutschland jetzt ausschalten" (im Windows-Shut-Down-Screen-Design) ein zur Auseinandersetzung unter dem Motto "Der Kapitalismus scheint so ausweglos wie ewig". 
(3) z.B. radikal, interim, diverse Aufrufe der Veranstaltergruppen im Vorfeld.
(4) Ein Interview mit Wolfgang Wieland und dem Anmelder der Demonstration, Gunnar Krüger in der taz, 13./14.5.00 und die Reportage "Unterwegs mit Gunnar Krüger" in der SZ, 3.5.00.
(5) Tagesspiegel 11. und 12.5.00; taz und B.Z. 12.5.00.
(6) Tagesspiegel 5.5.00.
(7) Nur exemplarisch: Michael Knape: "Offensiv und konzeptionell": Einsatzkonzeption der Berliner Polizei in der Walpurgisnacht und am 1. Mai 1997; in: Die Polizei(89) 1/1998, 1-32; ders.: Berlin und das "Phänomen" 1. Mai: Die polizeiliche Lage mit den Randalen bzw. Gewalttaten extremistischer Gruppierungen und den Erwartungen im politischen Bereich; in: Die Polizei(89) 12/1998, 343-348; oder August Greiner: Waimar läßt grüßen: Feststellungen und Anmerkungen zu den Polizeieinsätzen am 1. Mai d. J. in Berlin und Leipzig; in: Die Polizei(89) 7/8/1998, 229-232.
(8) vgl. z.B. Raphael Schaub: Gewalt als Strategie und Aktionstaktik sozialer Bewegungen. Das Framing der Autonomen und die staatliche Intervention gegen diese Bewegung in Deutschland (Mai 1997) http://socio.ch/movpar/t_rschaub1.htm
(9) Und hier legen die Produzenten herrschender Meinung durchaus zweierlei Maß an, wenn es um die Bewertung der Gewaltbereitschaft innerhalb der linksradikalen Bewegung einerseits und der Gewaltbereitschaft bspw. der Bundesregierung im Hinblick auf die Bundeswehr als "ultima ratio", als letztes Mittel also, ihrer Außen- und Sicherheitspolitik geht. 
(10) FAZ, Anfang Mai*.
(11) Isakra e.V. und die Antifaschistische Aktion Berlin (AAB) unterhalten ein gemeinsames Büro in Berlin. Die AAB gehören zu den aktivsten Gruppen der inhaltlichen Vorbereitung der Demonstration; vgl. http://www.nadir.org/nadir/initiativ/aab/.
(12) vgl. ami 3/00: "Erstmals seit 1945: Nazis marschieren durch das Brandenburger Tor", S. 5ff.
(13) Berliner Zeitung, 26.4.00.
(14) vgl. taz 13./14.5.00.
(15) vgl. taz 9.5.00.
(16) vgl. taz 8.5.00.
(17) Videoaufzeichnung bei Demonstrationen findet bereits seit mindestens 20 Jahren in steigendem Maße statt. "...beim Fotografieren von Bürgern durch Polizisten gilt das ‚Recht am eigenen Bild' nichts: Für ‚Zwecke der Rechtspflege und der öffentlichen Sicherheit' kann jeder von Staats wegen abgelichtet werden. Inzwischen werden kleinere und insbesondere größere politische Aktionen und Demonstrationen von Anfang bis Ende durch sogenannte ‚Foto- und Dokumentationstrupps' der Polizei offen oder versteckt im Bild und auf Film festgehalten und gespeichert. Selbst Maikundgebungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes werden systematisch aufgezeichnet." aus: Gössner, R. und Herzog, U.: Der Apparat : Ermittlungen in Sachen Polizei, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1982, S. 62; auf Seite 63 ist ein solcher Trupp in Gorleben 1980 abgebildet!
(18) Ein Versuch: Unabhängige Demonstrationsbeobachtung, die 2000 zum ersten Mal bei der 1. Mai-Demo in Berlin durchgeführt wurde. Dokumentation: http://kickme.to/demowatch.
 

Home * Bestellformular * mailto:redaktion@antimilitarismus-information.de * Homepage-Suche * Jahrgänge